Es klingt gespenstisch – und bitterernst zugleich. Wer sich chronisch einsam fühlt, bei dem erhöhe sich die Chance, einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder gar eine Krebserkrankung zu bekommen. So war es in den vergangenen Monaten immer wieder zu lesen. Einsam zu sein, sei für die Gesundheit ungefähr so gefährlich, wie Kette zu rauchen. Von einer Epidemie ist gar die Rede. Und Theresa May, die britische Premierministerin, berief Anfang des Jahres eine Einsamkeitsministerin. Die Botschaft: Ich bekämpfe die Einsamkeit und rette damit Leben!

Einer, der die Einsamkeitsdebatte in Deutschland zuletzt wieder auf den Plan gerufen hat, ist Bestsellerautor Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie in Ulm und bekannt für seine angsteinflößenden und viel kritisierten Bücher Digitale Demenz und Cyberkrank!, in denen er darlegt, dass das Internet, Smartphones und Computer Kinder süchtig und dumm machen würden. 

Todesursache Nummer eins?

In seinem neuen Buch Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich, das gerade erschienen ist, nimmt er sich jetzt die Einsamkeit vor: Sie sei, schreibt Spitzer, eine "Krankheit" und gar die "Todesursache Nummer eins".

"Todesursache Nummer eins", schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Doch es lohnt sich, einmal einen genaueren Blick auf die Studien zu werfen, die angeblich belegen, wie sehr Einsamkeit uns krank mache. Und sich zu fragen, welches Bild von Gesellschaft diejenigen zeichnen, die gerade am lautesten über Einsamkeit schreiben und sprechen.

Aber fangen wir bei der Definition an: Eine Krankheit, wie Spitzer behauptet, ist Einsamkeit definitionsgemäß nicht. Wäre sie ein körperliches Leiden, müssten nachweislich ein oder mehrere Organsysteme in Mitleidenschaft gezogen sein. Wäre sie ein anerkanntes psychisches Leiden, dann gäbe es diagnostische Kriterien, die anhand von Verhalten, Empfinden und Gedankengängen Gesunde von Kranken trennen. Niedergeschlagen zu sein, ist eben auch keine Krankheit, sondern nur eines der Symptome etwa einer Depression. Einsamkeit ist ein Gefühl. Und als solches kann sie – wenn überhaupt – nur als mögliches Symptom einer psychischen Krankheit angesehen werden. Oder auch einfach nur so bestehen.

Einsamkeit ist wissenschaftlich schwer zu fassen

Einsamkeit ist noch dazu ein Gefühl, das viele Menschen bewusst suchen. Sie entziehen sich der Welt, um zur Ruhe zu kommen. Einsamkeit soll die Sinne schärfen, sie ist seit jeher Gegenstand romantischer Träumereien. Aber natürlich: Einsamkeit ist oft auch etwas, worunter Menschen leiden, gerade wenn sie chronisch einsam sind, wenn das soziale Netz eines Menschen zusammenbricht oder eine psychische Krankheit ihm die Fähigkeit nimmt, enge Beziehungen zu anderen aufzubauen und zu pflegen. Einsamkeit ist also wissenschaftlich allemal schwer zu fassen.

Und das macht es Spitzer leicht, aus der Studienlage Schlüsse zu ziehen, die in das von ihm vertretene Weltbild passen. Schon bei der Auswahl der vom ihm in seinem Buch zitierten Arbeiten wird deutlich, dass für ihn viele Phänomene unter den Begriff Einsamkeit fallen. Mal untersuchten Forscherinnen und Forscher, wie unterschiedlich Menschen Stress verarbeiteten, je nachdem, ob sie in ihrem Alltag viel unterstützenden sozialen Kontakt erfahren hatten oder eben nicht (Neuroimage: Eisenberger et al., 2007). Das Gegenteil solcher Kontakte sei Einsamkeit, schreibt Spitzer. Mal wurden Probandinnen und Probanden in einem Kernspintomografen untersucht, während sie auf einem Computer ein Ballspiel mit zwei anderen spielten sollten. Ihnen wurde erzählt, die Mitspieler seien andere Menschen in anderen Kernspintomografen, obwohl sie eigentlich nur mit dem Computer spielten. Später im Experiment wurden sie dann von den anderen beiden vermeintlichen Spielern ausgeschlossen (Science: Eisenberger et al., 2003): Diese Zurückweisung sei laut Spitzer auch ein Zeichen der Einsamkeit. Mal wurde abgefragt, ob Menschen ein großes soziales Netzwerk hatten oder verheiratet waren (Critical Reviews in Oncology/Hematology: Pinquart & Duberstein, 2010): Die Ledigen und diejenigen mit kleinem Freundeskreis galten als einsam. Diese Ansätze sind alle verschieden und lassen sich schwer zu einer gemeinsamen Erkenntnis heranziehen. In keinem Fall lassen sich daraus konkrete Gesundheitsfolgen von Einsamkeit ableiten.

Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es manche mit der Wissenschaftlichkeit genauer nehmen und durchaus Effekte feststellen konnten. John Cacioppo zum Beispiel, Professor für soziale Neurowissenschaft in Chicago. Cacioppo benutzt in seiner Forschung einen extrem einfachen Fragebogen (Research on Aging: Hughes, Cacioppo et al., 2004), der aus nur drei Fragen besteht, auf die man mit "so gut wie nie", "manchmal" oder "häufig" antworten kann:

1.)   Wie oft empfinden Sie, dass Ihnen ein anderer Mensch fehlt?

2.)   Wie oft fühlen Sie sich verlassen?

3.)   Wie oft fühlen Sie sich von anderen isoliert?

Wer oft "häufig" ankreuzt, das zeigte Cacioppo in verschiedenen Studien, hat im Schnitt mehr Stresshormone im Blut, leidet häufiger unter Bluthochdruck und Depressionen (Annals of Behavioral Medicine: Hawkley & Cacioppo, 2010). All das sind Risikofaktoren dafür, später einmal einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen.

Soziale Isolation ist etwas anderes als Einsamkeit

Cacioppo weist aber auch darauf hin, dass das Erleben von Einsamkeit nicht das Gleiche ist wie die soziale Isolation selber. Eine verheiratete Mutter kann sich inmitten eines erfüllenden Berufslebens und eines Privatlebens mit glücklicher Partnerschaft einsam fühlen, genau wie ein junger Student, dem seine Depression nicht erlaubt, ernsthafte Beziehungen einzugehen. Auf der anderen Seite muss sich ein allein lebender Single nicht einsam fühlen, genauso wenig wie ein 95-Jähriger, dessen Frau und Freunde verstorben sind, der aber zufrieden auf sein Leben zurückblickt. Soziale Isolation und Einsamkeit korrelieren, sie sind aber nicht dasselbe.