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Jonas Leppin

Die Lage am Abend Wenn die Idioten wieder auf die Straße gehen

Die drei Fragezeichen heute:

  1. Antisemitismus – wer schreitet ein bei Judenhass?

  2. Israel – welche Folgen hat eine Bodenoffensive in Gaza?

  3. Klimakrise – wie kalt lässt uns die Arktis?

1. Bepöbelt, bedroht, bespuckt

2023: Einer der letzten Holocaustüberlebenden sagt: »Wir Juden sind wieder mal ein Leckerbissen für all die Idioten, die auf unseren Straßen rumlaufen.«  Ivar Buterfas-Frankenthal ist 90 Jahre alt. 1563 Mal hat er seine Geschichte schon öffentlich vorgetragen, hat Ansprachen gegen Fremdenhass und Antisemitismus an Schulen, Universitäten, in Theatern gehalten. Inzwischen sichern mehr als 20 Überwachungskameras sein Grundstück. Er erhält Morddrohungen.

2023: Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz in Deutschland sagt den Satz : »Wir müssen damit rechnen, dass gezielt Gewalt gegen Jüdinnen und Juden verübt werden könnte.« Die Gefahr war nie gebannt. Und es wird schlimmer: Verfassungsschutzchef Haldenwang fürchtet eine Radikalisierung im Land. Und die Stimmung wird weiter angezündet auf Telegram, X, Instagram, TikTok.

1993: Ich bin ein Kind und höre zum ersten Mal wie jemand singt, dass »Verrückte auf die Straße gehen«. Es ist das Lied »Willkommen in Deutschland« der damaligen Punkband Die Toten Hosen, und Sänger Campino spuckt die Zeilen ins Mikrofon: »Kein Ausländer, der uns dabei helfen kann, dieses Problem geht nur uns allein was an.« Diese rohen Worte, die Energie und die Gewissheit, dass der Hass, die Gewalt, die Bedrohung aus dem Inneren dieses Landes kommt. Aus dem Land der Täter.

Nach dem Terror der Hamas haben viele deutsche Politikerinnen und Politiker klare Worte gewählt. Solidarisch mit Israel, aber auch besorgt, was diese Angriffe für jüdisches Leben in Deutschland bedeuten. Dessen Schutz sei nicht nur Staatsaufgabe, sondern »Bürgerpflicht«, mahnt der Bundespräsident. Doch die bittere Warheit ist offener Hass auf den Straßen. Zur Wirklichkeit gehört auch ein weitverbreiteter Antisemitismus in den Köpfen. Nicht nur von tumben Nazis, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern mitten aus der Gesellschaft. Jüdinnen und Juden haben Angst in Deutschland.

Ganz konkret haben sie Angst, dass sie jemand bepöbelt, bespuckt, schlägt. Und es gibt eine weitere ganz reale Angst, dass Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nicht einschreiten, wenn sie Judenhass erleben.

2. Risiken und Nebenwirkungen

Es gibt eine schwer zu beschreibene Anspannung, wann Israel mit einer angekündigten Bodenoffensive beginnt. Klar ist, sie würde diesen Krieg verändern. Experten sagen die heftigsten Häuserkämpfe in einer Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg voraus.

Mein Kollege Thore Schröder berichtet aus Tel Aviv und beschreibt, weshalb die Offensive so gefährlich ist . Wie US-Präsident Joe Biden darum ringt, einerseits deutlich an der Seite von Israel zu stehen, gleichzeitig aber wohl auch bemüht ist, Israels Premierminister Netanyahu von einer umfassenden Attacke am Boden abzubringen. Biden sorgt sich vor einer Reaktion wie der der Amerikaner nach den Terroranschlägen am 11. September 2001. Vor den Fehlern, welche die USA in Afghanistan und dem Irak begangen haben. Öffentlich sagt Biden: »Auch wenn ihr diese Wut spürt, lasst euch nicht davon verzehren.«

Thore schreibt auch, welche Risiken es gibt und welch unfassbares Leid sicher wäre. Er hat auch israelische Soldaten getroffen, die sich mit Liedern motivieren und Rache nehmen wollen. Der Militäranalyst Eitan Shamir  von der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv findet, die Offensive sollte bald losgehen: »Hier geht es um grundlegende menschliche Psychologie. Die Soldaten verlieren nach einer Weile ihre Konzentration.« Noch gibt es für die Regierung gewichtige Gründe, die Bodenoffensive aufzuschieben. Und laut einer aktuellen Umfrage sinkt auch in Israel die Unterstützung für einen sofortigen Beginn einer Bodenoffensive. 49 Prozent der Menschen im Land sind demnach dafür, mit einer groß angelegten Bodenoffensive im Gazastreifen abzuwarten. Doch die Zeit wird knapp.

Weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in Nahost finden Sie hier:

  • Der Israel-Gaza-Krieg in Karten und Grafiken: Wie verlief der Terrorangriff der Hamas? Wo schlägt Israel zurück? Die wichtigsten Entwicklungen im Gazastreifen und in Israel, fortlaufend aktualisiert in Karten und Visualisierungen. 

  • Sorge um Arzneimittelwirkstoffe aus Israel: Die Pharmaindustrie gehört zu den wichtigen Wirtschaftszweigen in Israel. Zwei Wirkstoffe kommen sogar ausschließlich aus dem Land. Könnte es zu Beeinträchtigungen bei der Produktion kommen?

  • Terror der Hamas: Handelt Israel in Notwehr?: Wer angegriffen wird, darf sich wehren. Aber gibt es ein Notwehrrecht auch für Staaten? Eine Kolumne von Thomas Fischer zum Krieg zwischen Israel und der Hamas .

  • Greta Thunberg provoziert erneut mit Pro-Palästina-Protest: Der Nahostkonflikt spaltet die Klimabewegung Fridays for Future. Greta Thunberg sorgt mit ihren Solidaritätsaufrufen für Palästina und Gaza für Kritik – nun hat sie sich erneut positioniert.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen: Das News-Update

3. Stimmung unter null

Der Wissenschaftler Hugues Lantuit hat keinen leichten Job. Er leitet die Arbeitsgruppe Permafrostküsten am Alfred-Wegener-Institut und bemüht sich dort, Forschungsergebnisse zum Thema Arktis für ein breiteres Publikum aufzubereiten. Darauf springt nicht jeder sofort an. Was vielleicht ein wenig dumm ist. Lantuit sagt: »Das, was in der Arktis passiert, bestimmt unsere Zukunft.«

In Kanada hat er gerade ein sechsjähriges Großprojekt mit mehr als 150 Forschenden aus zwölf Ländern koordiniert, bei dem erstmals modelliert wurde, in welchem Ausmaß und welchen Zeiträumen die Permafrostböden verschwinden. Permafrostböden? Kleine Erläuterung?: Ein Drittel der weltweiten Küsten befindet sich in der Arktis und ist fast immer gefroren. Dieser Permafrost taut aufgrund des Klimawandels zunehmend auf und laut Hugues Lantuit brechen diese Küsten bald in großen Teilen weg. Für die Gemeinden vor Ort sind das keine guten Nachrichten: Laut Lantuit gibt es 1150 Permafrostsiedlungen in der Arktis, knapp die Hälfte davon wird von 2050 an nicht mehr auf gefrorenem Boden stehen. Das betrifft gut drei Millionen Menschen. Ob es dadurch zu mehr Klimaflüchtlingen kommt und wie wir am Ende alle davon betroffen sind, hat er im Gespräch mit meinem Kollegen Marco Evers erzählt.

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Ukraine erhält drittes Flugabwehrsystem Iris-T aus Deutschland: Deutschland hat Kiew ein drittes Exemplar des deutschen Flugabwehrsystems geliefert. Trotz der Eskalation in Nahost sicherte Verteidigungsminister Pistorius der Ukraine weitere Unterstützung zu.

  • Deutsche Airports verlieren Direktverbindungen ins Ausland: Es gibt wieder mehr Luftverkehr, doch die Zahl der im Winter geplanten Flüge bleibt weit unter dem Niveau vor Corona. Flughäfen wie Berlin, Düsseldorf und Stuttgart müssen sich von Zielen in Europa trennen.

  • Drei Jugendliche nach Tötungsdelikt festgenommen: Nach dem Tod eines Obdachlosen hat die Polizei einen 14- und zwei 15-jährige Jungen festgenommen. Zwei der Jugendlichen sollen bereits zugegeben haben, sich dem Mann gegenüber gewalttätig verhalten zu haben.

  • Skistar Braathen beendet seine Karriere – im Alter von 23 Jahren: Im vergangenen Winter gewann er noch fünf Weltcuprennen, jetzt hört er auf: Der norwegische Slalomfahrer Lucas Braathen hat unter Tränen sein Karriereende bekannt gegeben. Dem norwegischen Verband macht er Vorwürfe.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Wer muss mehr Angst vor Wagenknecht haben – die AfD oder die SPD? Mit ihrer neuen Partei könnte Sahra Wagenknecht die politischen Verhältnisse in Deutschland radikal verändern. Die Linke zerfällt, aber auch die extremen Rechten sind nervös. Ein Problem der neuen Truppe: die Finanzen. Der SPIEGEL-Report 

  • Der deutsche Solarboom hängt an Chinas Tropf – kann das gut gehen? Die Fotovoltaik boomt, doch Europa importiert den Großteil der Technik aus China und begibt sich damit in die nächste energiepolitische Abhängigkeit. Lösen lässt sich das Problem nur mit viel Geld .

  • Bestellung neuer Patriot-Flugabwehrsysteme verzögert sich: Deutschland hat der Ukraine ein Patriot-System zum Schutz vor Luftangriffen geliefert und ein weiteres in Aussicht gestellt. Nach SPIEGEL-Informationen wird jedoch mehr Zeit als geplant vergehen, bis die Bundeswehr Ersatz erhält .

  • Echt schrecklich: Süßes oder Saures? An Halloween geht es darum, einen künstlichen Schauder zu erzeugen. Aber manchmal steht die bittere Realität vor der Tür .

  • Wetten, dass Taylor Swift hiermit wieder die Charts erobert? »1989« ebnete Taylor Swift einst den Weg zum Pop-Superstar. Jetzt, auf dem Zenit ihres Erfolgs, bringt sie das Blockbuster-Album als »Taylor’s Version« neu heraus .

Was heute weniger wichtig ist

Top 1 mit vielen Nullen: Laut Bloomberg beträgt das Gesamtnettovermögen der Musikerin Taylor Swift, 33, jetzt 1,1 Milliarden Dollar. Das ist sehr viel Geld, auch wenn die Vermögensvorstellungen vermutlich irgendwo ab der Hundert-Millionen-Grenze verloren gehen. Wie viele Villen sind das? Wie viele Jachten? Welches Urlaubsziel von hier bis zum Mars kann man damit in den Herbstferien buchen? Ganz weltlich wird es, wenn man sich die aktuellen Ticketpreise von Swift anschaut: Eine Karte für die »Eras«-Tour kostet im Schnitt 254 Dollar. Das ist auch viel Geld, aber irgendwie anders viel.

Mini-Hohlspiegel

Von tagesspiegel.de: »Erneut warb Özdemir für seine Gesetzespläne zu Werbeverboten für ungesunde Lebensmittel an die Adresse von Kindern, die in der Ampel-Koalition feststecken.«

Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.

Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Chappatte

Und am Wochenende?

Nichts beruhigt mich manchmal mehr als die Erinnerung daran, wie ich früher nach der Schule im Wohnzimmer in der Sonne lag und im Hintergrund Musikfernsehen lief. Die Bilder, die Musik, das wohlige Gequatsche der Moderatorinnen und Moderatoren führten oft zu einem wohligen Mittagsschlaf.

Natürlich ahnte ich schon damals, dass diese Zuckergusswelt nicht echt ist. Das beschreibt die Sängerin Britney Spears in ihrer Autobiografie »The Woman in Me« gerade schmerzhaft . Gestern ist mit »MTViva liebt dich!« jedoch ein Buch erschienen, das die Geschichte des deutschen Musikfernsehens noch mal aufleben lässt.

Der ehemalige MTV-Moderator Markus Kavka und Programmdirektor Elmar Giglinger sprechen darin unter anderem mit Nilz Bokelberg, Mola Adebisi, Joko Winterscheidt, Fettes Brot, Die Ärzte, Die Toten Hosen und Scooter über diese »elektrisierenden« Jahre. Auch die Personen hinter der Kamera sollen, laut Ankündigung, in dieser Oral History ihre Geschichten erzählen. Ich kann über die 528 Seiten bisher wenig sagen, aber ich gebe diesem Buch eine Chance. Im Wohnzimmer. In der Abendsonne. Und gerne mit Hintergrundmusik. Tun Sie das doch auch.

Einen schönen Abend. Herzlich

Ihr Jonas Leppin, Chef vom Dienst

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