Ein Blogger will einer Zürcher Professorin ein Plagiat nachweisen, eine Online-Jagd beginnt – und dann wird es erst richtig seltsam

Eine skurrile Geschichte aus der Welt der Wissenschaft, wegen der nun eine offizielle Untersuchung läuft.

Giorgio Scherrer 5 min
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Über die Weihnachtstage zogen die Vorwürfe gegen die Zürcher Professorin weite Kreise und führten zu heftigen Reaktionen.

Über die Weihnachtstage zogen die Vorwürfe gegen die Zürcher Professorin weite Kreise und führten zu heftigen Reaktionen.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Es beginnt mit einem simplen Blogpost, der an Heiligabend 2022 erscheint. Titel: «‹Nobody cares about your blog!›»

Es geht weiter mit einer Gruppe Wissenschafter, die, statt zu feiern, den Weihnachtstag damit verbringen, online einer Kollegin hinterherzurecherchieren – und dabei Erstaunliches zutage fördern.

Und es endet vorläufig am zweiten Weihnachtstag mit vielen offenen Fragen: Hat eine Titularprofessorin der Universität Zürich – wie der Blogpost behauptet – die Regeln der Wissenschaft verletzt? Oder wird sie – wie die Professorin selbst entgegnet – gerade Opfer einer Rufmordkampagne?

Klar ist in diesem Fall nichts ausser einer Sache: Die Zürcher Hochschullandschaft erlebt gerade einen ziemlich skurrilen Fall von Plagiatsvorwürfen – ausgetragen in aller Öffentlichkeit. Skurril ist dieser Fall allerdings nicht wegen der Vorwürfe selbst.

Skurril ist er wegen der Dynamik, die die Vorwürfe nach der Publikation des Blogbeitrags annehmen – und wegen der gegensätzlichen Realitäten, die sich in den Stellungnahmen der Professorin und in der Twitter-Bubble des Bloggers zu formieren beginnen. Es ist ein Lehrstück über die Schwierigkeit, einen Plagiatsvorwurf zu beweisen oder zu entkräften.

Und eines darüber, was passiert, wenn dieser Versuch live in sozialen Netzwerken unternommen wird.

Ernste Vorwürfe

Die Vorwürfe sind schnell zusammengefasst: Eine Zürcher Titularprofessorin der philosophischen Fakultät – also eine ohne Lehrstuhl und feste Anstellung – soll in wissenschaftlichen Arbeiten einige Absätze ganz oder in Teilen aus dem Blog und anderen Publikationen abgeschrieben haben, ohne die Originalquelle zu nennen. Sie soll sich auf dem Blog auch beim Bildmaterial bedient haben. Und sie soll die Forschungsleistung des Bloggers – nach eigenem Bekunden ein Kenner des Gebiets – nicht gewürdigt haben.

In der Welt der Wissenschaft sind das durchaus ernste Vorwürfe, aber vom Kaliber her nicht vergleichbar mit denen, die gerade die Universität St. Gallen beschäftigen. Dort soll ein Professor grosse Teile seiner Qualifikationsarbeiten plagiiert haben.

Für Vertreter des entsprechenden Fachgebiets scheinen die Vorwürfe aber durchaus von grossem Belang zu sein. Nachdem der Blogbeitrag auf Twitter geteilt worden ist, führt er zu heftigen Kommentaren. Von einem «Weihnachtsthriller» ist die Rede, «ungeheuerlich», «abscheulich» und «irritierend» wird das Verhalten genannt. Jemand fragt: «Ist das ein Betrug, um Fördergelder zu erhalten?»

Unter dem Weihnachtsbaum forscht die Twitter-Bubble nach – und sieht in allem, was sie findet, die weitere Bestätigung ihrer Thesen: Tatsächlich wurde die Professorin für die Buchpublikation, die im Zentrum des Plagiatsvorwurfs steht, mit 20 000 Franken vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Im Buch dankt sie auch der Universität Zürich für finanzielle Unterstützung. Und herausgegeben hat sie das Buch in einem akademischen Kleinverlag, den sie selbst leitet.

Bei diesem Verlag und dem damit verbundenen privaten Forschungszentrum der Professorin folgt die nächste Entdeckung: Etwas stimmt hier mit den Angestellten nicht ganz. Diese werden zwar auf der Website mit Foto gezeigt – doch in mindestens vier Fällen sind diese Bilder sogenannte Stock-Fotografien. Symbolbilder aus dem Netz also, die auch auf unzähligen weiteren Websites zu finden sind. Etwa auf jener eines auf Drogen spezialisierten Anwaltsbüros, eines Altersheims oder einer Haarverlängerungsfirma.

Skurrile Funde

Während sich die Bubble über diese skurrilen Funde freut, folgt schon die nächste Wendung: Die Symbolbilder verschwinden von der Website. Und noch etwas verändert sich: Das Buch im Zentrum der Plagiatsvorwürfe – eine Online-Publikation – ist plötzlich in abgeänderter Fassung da, wie sich im sogenannten Internet-Archive nachvollziehen lässt. Ein Quellennachweis wurde eingefügt, mehrere Bilder wurden ausgetauscht. Von wem? Man weiss es nicht.

Klar ist nur: Die Änderungen betreffen alles Punkte, die im Blog thematisiert wurden.

An diesem Punkt sind die Twittererinnen und Twitterer bestens unterhalten. Eine schreibt: «Nachdem ein stornierter Flug meine Weihnachtspläne zunichtegemacht hat, habe ich Zeit, diese Demontage eines akademischen Betrugs zu geniessen.»

Erst spät, als die Meinungen schon gemacht zu sein scheinen, meldet sich die betroffene Professorin zu Wort. Ihr Kritiker, der Blogger, hatte noch vor der Publikation versucht, sie zu kontaktieren. Er blieb jedoch bei der Assistentin hängen, die ihm jenen Satz geschrieben haben soll, der zum Titel seines Posts wurde: «Niemand schert sich um Ihren Blog!»

Erst nach der Publikation weist die Professorin selbst alle Vorwürfe zurück. In mehreren öffentlichen Statements und einem langen Mail-Verkehr mit der NZZ legt sie ihre Sicht der Dinge dar.

Die Vorwürfe gegen sie seien haltlos, schreibt sie. Die öffentliche Kritik komme einer Diffamierungskampagne gleich. Sie könne, verspricht sie, alles erklären und entkräften.

Die Antwort der Professorin

Die angeblich abgeschriebenen Sätze seien deshalb ähnlich, weil sie und der Blogger sich unabhängig voneinander auf dieselben Quellen gestützt und denselben Forschungsgegenstand beschrieben hätten. Beim angeblich ohne Einwilligung abgegriffenen Bildmaterial sei es ähnlich: Dieses stamme zum Teil schlicht von derselben Ursprungsquelle. In einem Fall habe eine Nachbearbeitung durch ein Bildbearbeitungsprogramm die Ähnlichkeit mit einem Bild auf dem Blog noch verstärkt.

Wie der Blogger hat auch die Professorin umfangreiche Belege für ihre Erläuterungen.

Sie habe, räumt die Professorin ein, kurz nach Abschluss ihres Manuskripts vom Blog und von dessen paralleler Forschung erfahren. Doch gehe diese viel weniger weit als die ihre. Was sie in einer fast 300-seitigen Publikation wissenschaftlich geleistet habe, könne der Blog-Autor mit seinen Mitteln gar nicht zustande bringen.

Dazu komme, dass sie am kritisierten Projekt anders als behauptet nichts verdient habe. Denn das Geld des SNF sei nicht an sie direkt geflossen, sondern nur an den Verlag, den sie leite.

Tatsächlich entspricht das den öffentlich einsehbaren Vergabekriterien des SNF. Demnach gab es auch ein externes Gutachten, das dem Buch der Professorin die nötige wissenschaftliche Qualität attestierte.

Beschimpfungen auf beiden Seiten

Und was ist mit den Symbolbildern auf der Verlags-Website, die rätselhaft verschwanden? Die habe der für die Website verantwortliche Mitarbeiter einst als Platzhalter hinzugefügt und nie ausgewechselt. Aufgrund der Kritik habe man dies dann bereinigt. Und die plötzlichen Änderungen im online publizierten Buch? Die stelle sie in Abrede, so die Professorin. Sie selber habe gar keinen direkten Zugriff auf die Publikation.

Stündlich erhalte sie wütende E-Mails, in denen sie als Betrügerin beschimpft werde, schreibt die Professorin. Auch ihre Mitarbeitenden würden belästigt. Besonders stört sie sich daran, dass ihr Kritiker auf seinem Blog Bilder von der Website ihres Instituts zeigt, auf denen ihr Mann und ihre Töchter zu sehen sind.

Mit vollem Namen wird dort die gesamte Familie genannt und über deren Rolle in den angeblichen Machenschaften der Mutter spekuliert. Diese nennt den Blogger deshalb einen «Wahnsinnigen». Sie habe, schreibt sie, unterdessen eine Strafanzeige wegen übler Nachrede und Verleumdung eingereicht.

Universität kündigt Untersuchung an

Für die Professorin ist die ganze Geschichte ein Albtraum – die seriöse Wissenschafterin muss unversehens gegen die Übermacht des Online-Mobs kämpfen.

Für die Twitter-Bubble ist die Geschichte das genaue Gegenteil: ein Beispiel für gelungenen Widerstand – der bloggende David gegen den professoralen Goliath.

Der Blogger selbst legt auf Anfrage der NZZ Wert auf die Feststellung, er selbst wolle der Professorin kein Plagiat vorwerfen. Er wolle lediglich «Beweise dafür präsentieren».

Wer hat recht? Eine Antwort darauf, die beide Seiten zufriedenstellt, wird wohl höchstens eine Prüfung durch unabhängige Experten eruieren können. Zu verworren ist die Informationslage, zu gross sind die Eigenheiten des betroffenen Fachs.

Eine solche Prüfung soll nun auch stattfinden, wie die Universität Zürich auf Anfrage der NZZ schreibt. Wegen der durch den Blogger erhobenen Vorwürfe werde eine unabhängige Untersuchung eingeleitet. Bis zu deren Abschluss gelte für die Professorin die Unschuldsvermutung.

Schon am zweiten Weihnachtstag hatte die Hochschule sich beeilt mitzuteilen, dass sie grossen Wert auf die Einhaltung wissenschaftlicher Standards lege.

Die Mitteilung erfolgte – wo auch sonst – auf Twitter.