Weizenexport: Die ukrainischen Bauern bangen um ihre Existenz - und warten sehnlich auf eine Einigung mit Russland

Weil das Schwarze Meer vermint ist, können ukrainische Agrarproduzenten nur geringe Mengen Weizen exportieren. Das gefährdet ihre Existenz. Als Ursache von Hungerkrisen wird der ukrainische Weizen jedoch überschätzt.

Daniel Imwinkelried, Wien, Gerald Hosp
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Ein russischer Soldat bewacht ein Weizenfeld in der Nähe der besetzten Stadt Melitopol im Südosten der Ukraine.

Ein russischer Soldat bewacht ein Weizenfeld in der Nähe der besetzten Stadt Melitopol im Südosten der Ukraine.

Sergei Ilnitsky / EPA

Zuerst habe er die Ankündigung, wonach sich die Ukraine und Russland diese Woche auf die Öffnung des Hafens von Odessa einigen könnten, für eine PR-Aktion gehalten, sagt der Agrarmanager Alex Lissitsa. Mittlerweile sei er aber vorsichtig optimistisch gestimmt.

Lissitsa ist Chef der ukrainischen Agrarfirma IMC und wartet sehnlich darauf, dass er endlich Mais, Weizen und Sonnenblumen in grösseren Mengen als jüngst ausführen kann. Üblicherweise liefen die Exporte über die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer. Aber diese sind teilweise zerstört, zudem gefährden Seeminen den Schiffsverkehr. Laut den Daten der Notenbank hat die Ukraine von März bis Mai 2022 nur etwa halb so viele Agrarwaren exportiert wie in derselben Periode des Vorjahres.

Einbruch des Warenaustausches

Handel in Millionen Dollar
Ausfuhren insgesamt
Agrargüter
Einfuhren insgesamt

Seit dem vergangenen Donnerstag besteht aber Hoffnung auf eine Entspannung der Lage. Die Ukraine und Russland sollen in der Exportfrage mit der Vermittlung der Türkei und der Uno teilweise eine Einigung erzielt haben. Diese Woche wollen sich die Parteien offenbar erneut treffen, eine Lösung soll in Griffnähe sein.

Es ist vorgesehen, dass mit Agrargütern beladene Schiffe den Hafen von Odessa verlassen dürfen. Bisher hatten sich die Kriegsparteien gegen eine solche Lösung gesperrt: Die Ukraine befürchtete russische Attacken über das Schwarze Meer, Wladimir Putin wiederum verdächtigte die Ukraine, allfällige Getreidelieferungen für Waffentransporte zu missbrauchen. Wenn die Einigung zustande kommt, werden die Türkei und die Uno prüfen, ob militärisches Gerät Teil der Fracht ist.

Allerdings sind die ukrainischen Lieferanten nicht in der Lage, schon übermorgen zu liefern, falls der Hafen von Odessa aufgeht. Rund drei Monate werde es wohl dauern, bis Weizen und anderes Getreide ausgeführt werden könnten, sagt Lissitsa von IMC.

Logistik gerät an den Anschlag

Seit der Eskalation des Ukraine-Krieges am 24. Februar zerbrechen sich ukrainische Unternehmer den Kopf darüber, wie sie Agrargüter ausführen sollen.

Als Ausweichroute zum Schwarzen Meer nutzten die Exporteure jüngst Land- und Wasserwege über Rumänien, Polen und Ungarn. «Rumänien ist aber mittlerweile zu», sagt Lissitsa. Agrargüter aus der Ukraine seien dort blockiert, und nun gerate die Logistik wegen des frisch geernteten Weizens aus Ungarn, Serbien und Rumänien zusätzlich an den Anschlag.

Die ukrainischen Agrarunternehmen ringen mittlerweile um ihre Existenz. Je länger der Export stockt, desto rascher schmelzen ihre Liquiditätsreserven. Nur wenn sie ihre Ware exportieren können, erhalten sie Geld, das sie im September wieder in die Saat investieren können. Die Liquidität gewisser Produzenten sei so angespannt, sagt Lissitsa, dass sie zum Tauschhandel übergegangen seien. «Sie bezahlen Landeigentümer mit Weizen oder Mais.»

Lissitsa befürchtet, dass der Agrarsektor in der Ukraine dadurch einen schweren Rückschlag erleiden werde. Weltweit hat er in den vergangenen 20 Jahren grosse Produktivitätsfortschritte erzielt. Die Produktion von Weizen etwa stieg um 34 Prozent, in der Ukraine und in Russland nahm sie gar um das Zweieinhalbfache zu.

Steigende Produktivität

globale Weizenproduktion, in Millionen Tonnen
Produktion
Verbrauch

Seit 2000 hätten die ukrainischen Agrarunternehmen viel Geld in die Produktion gesteckt, sagt Lissitsa. Diese Investitionen seien nun gefährdet. Das würde sich auch auf den weltweiten Getreide- und Weizenmarkt auswirken, obschon die Bedeutung der Ukraine global gesehen nicht so gross sei, wie manche meinen.

Dürren und vergessene Kriege

Hungerkrisen haben unzählige Ursachen. Dazu gehören Unwetterkatastrophen, Dürren oder die vielen Konflikte, die irgendwo auf der Welt ausgetragen werden, aber wegen des Ukraine-Krieges in Europa kaum mehr zur Kenntnis genommen werden. Es ist ein Irrglaube, dass die Welt in eine Nahrungsmittelkrise rutscht, allein weil die Ukraine Getreide derzeit nur in beschränkten Mengen ausführt.

Gewisse Länder in Nordafrika und in der Levante trifft das zwar hart. Per Schiff lassen sich Agrargüter günstig in diese Gegenden transportieren. «Für das globale Marktgleichgewicht haben die ukrainischen Ausfuhren allerdings eine geringe Bedeutung», sagt Reinhard Wolf, der Generaldirektor des Grosshandels- und Dienstleistungsunternehmens RWA Raiffeisen Ware bei Wien, das in ganz Zentral- und Osteuropa aktiv ist.

In der vergangenen Saison sind weltweit rund 776 Millionen Tonnen Weizen produziert worden. Bloss 200 Millionen Tonnen davon gelangten in den Export, davon stammten 20 Millionen Tonnen aus der Ukraine und 32 Millionen Tonnen aus Russland. «Das Problem für die armen Länder ist der Preis und weniger die Verfügbarkeit», sagt Wolf von RWA. Lissitsa sieht es ähnlich und verweist darauf, dass bloss 50 Prozent des ukrainischen Weizens für Brot verwendet würden, der Rest diene als Tierfutter.

Hoher lokaler Verbrauch

Weizenmarkt 2021/22, in Millionen Tonnen

Weil der globale Exportmarkt für Weizen mit rund 60 Milliarden Euro nicht übermässig gross ist, können Händler die Preise mit verhältnismässig niedrigen Geldbeträgen bewegen. Das war in den vergangenen Monaten der Fall. Händler berichten, dass sich Meldungen aus der Ukraine jeweils direkt auf die Kurse ausgewirkt hätten – offenbar war die Nervosität im Weizengeschäft fast noch grösser als an den Finanzmärkten generell.

Marktteilnehmer verwenden die sogenannte Stock-to-use-Ratio, um den Zustand des Marktes in eine einfache Zahl zu fassen. Sie misst also das Verhältnis von Weizenbestand und Verbrauch. Jüngst lag sie bei 35, was über die vergangenen 30 Jahre gesehen eher ein überdurchschnittlicher Wert ist. «Sonst machen wir uns jeweils Sorgen, wenn die Stock-to-use-Ratio unter 25 fällt», sagt Wolf von RWA. Erst ab diesem Wert hätten die Börsen früher reagiert.

Teurer Dünger wird zu höheren Getreidepreisen führen

Marktteilnehmer sind sich allerdings einig, dass sich die Konsumenten mittelfristig auf grundsätzlich höhere Weizenpreise einstellen müssen. Europa will sich von russischem Gas unabhängig machen. Das heisst aber auch, dass sich die Produzenten vom günstigsten Lieferanten verabschieden müssen. «Die zweite Phase der Krise betrifft die Düngemittel», sagt William Dujardin, der Chef des Schweizer Agrarhändlers Ameropa. Stickstoffdünger wird hauptsächlich mithilfe von Erdgas produziert. «Die steigenden Kosten bei den Düngemitteln werden sich auf die Preise von Getreide auswirken.»

Berührungsängste gegenüber russischem Weizen

Auf dem Weltmarkt fehlt teilweise nicht nur der Weizen aus der Ukraine, sondern auch jener russischen Ursprungs. Das Land hat im vergangenen Jahr 32 Millionen Tonnen Weizen ausgeführt, die Ukraine 20 Millionen Tonnen. Russischer Weizen unterliegt keinen Sanktionen, er könnte eigentlich frei gehandelt werden. Westliche Firmen wie Banken, Versicherer und manche Händler üben allerdings Zurückhaltung. Geld mit russischem Weizen zu machen, kann das Image einer Firma beschädigen. Zudem laufen die Unternehmen Gefahr, unfreiwillig unter das Sanktionsregime zu geraten. Das wäre etwa der Fall, wenn sie Weizen handelten, der zwar als russisch deklariert, in der Tat aber Raubgut aus der Ukraine ist.

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