Ruhe, bitte!

Die Menschen sind vom Nonstop-Konsumrausch überfordert. Lifestyle-Feinschmecker lassen sich deshalb nicht mehr von Sensationen leiten, sondern suchen nach anderen Qualitäten.

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jvr. ⋅ Höher, schneller, mehr, heftiger und härter – das schien bis dato die Maxime, wenn es darum ging, die Aufmerksamkeit kauffreudiger Konsumenten zu erhaschen. Um die Nervosität anzuheizen, aus der sich dann Kapital schlagen lässt, werden Verkaufsflächen mit pumpender Musik bespielt und durch künstlich erzeugte Verkaufshektik befeuert. Doch nun sieht es danach aus, dass diese Zitrone nicht weiter ausgepresst werden kann. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich Lifestyle-Feinschmecker nicht mehr von Sensationen und Knalleffekten leiten lassen, sondern nach anderen Qualitäten suchen.

Neustes Beispiel dafür ist die Ankündigung des Londoner Kaufhauses Selfridges, das nächstes Jahr eine neue «No-Noise»-Verkaufsfläche eröffnen will. Das Konzept, Teil der «Ultralounge» von Selfridges, soll laut Informationen des Branchenblattes «Women's Wear Daily» («WWD») bereits am 11. Januar erlebbar sein und den Konsumenten eine «meditative» Verkaufserfahrung bieten, so der Bericht.

Kunden, die den neuen «Silence Room» betreten, werden gebeten, ihre Schuhe auszuziehen und Handys, iPods und andere moderne Störmittel am Eingang abzugeben, um wirklich in Ruhe shoppen zu können. Creative Director Alannah Weston beschreibt das neue Konzept als «Raum, der die Kunden dazu einlädt, einen Moment der Ruhe zu finden in einer Welt, in der wir dauernd mit einer Kakofonie von Informationen und Stimulationen überfordert sind», so «WWD». Meditations-Experten von Headspace sollen den Kunden zeigen, wie sie zur Ruhe und Konzentration finden können.

Zu kaufen gibt es im neuen Konzept Mode und Accessoires von Marken wie Acne, Maison Martin Margiela, Yohji Yamamoto, Ann Demeulemeester oder Jil Sander, welche diesen Spirit der konzentrierten Ruhe schon lange in ihrer Design-DNA tragen.

Auch andere Marken haben sich die Maxime der gepflegten Entschleunigung auf die Fahnen geschrieben – in Mailand oder Paris machen bewusst kleine, hübsche Stores des italienischen Markenverbundes «Slowear» von sich reden, die nach kunsthandwerklicher Tradition hergestellte Kleidung von zeitloser Schönheit verkaufen.

Ein Zeitenwechsel ist auch in den neuen Printprodukten der Lifestyle-Avantgarde erkennbar. Auf der ersten Ausgabe des deutschen Magazins «The Germans», welches «Meinung, Zeitgeist und Hintergrund» vermittelt, treibt ein nackter Mann auf dem Rücken liegend im Wasser. Die Titelzeile lautet: «Aufbruch in eine neue Zeit». Die Seiten des überraschend gemachten Magazins strahlen eine unaufgeregte Kraft aus.

Dasselbe lässt sich vom Magazin «Kinfolk» sagen, das sich als «guide for small gatherings» anbietet, zu Deutsch: als «Wegweiser für kleine Zusammenkünfte». Das Team, ansässig in Portland, Oregon, sieht sich als «wachsende Gemeinschaft von Künstlern mit denselben Interessen – etwa einem gedeckten Tisch mit Freunden».

Das ansprechend gemachte Magazin, das es nur an ausgesuchten Adressen zu kaufen gibt, gänzlich ohne kommerzielle Werbung auskommt und nur über einen relativ hohen Einzelverkaufspreis finanziert wird, überrascht mit einer ruhigen, konzentrierten Ästhetik und wohltuend unprätentiöser Fotografie. Abgebildet werden in «Kinfolk» Menschen, die zusammen kochen, essen und trinken, einem Handwerk nachgehen, am Strand spazieren oder Pflanzen kultivieren – nichts als elegant kuratierte Alltäglichkeit. Solche Momente wirken im nervösen Feuergefecht der modernen Multichannel-Kommunikationsindustrie wieder sehr anziehend.