Vollzeitschwäche der Produktivität

Chart of the Week

3 min Lesedauer 03.05.2024

Trotz Digitalisierung und künstlicher Intelligenz stagniert die Arbeitsproduktivität. Grund dafür ist nicht so sehr der häufig thematisierte Investitionsstau, sondern viel mehr eine Nebenwirkung des flexibleren Arbeitsmarktes.

Eine der wenigen positiven Überraschungen der deutschen Wirtschaft war und bleibt der Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 5,9 Prozent weiterhin auf niedrigem Niveau und die Beschäftigung liegt mit fast 46 Millionen Menschen, die in Deutschland einer bezahlten Beschäftigung nachgehen, auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Doch trotz boomendem Arbeitsmarkt sorgt sich Deutschland kollektiv um einen möglichen Wohlstandsverlust sowie abnehmende Wettbewerbsfähigkeit. Der Blick auf den erwirtschafteten Output pro beschäftigte Person in den vergangenen Jahren erklärt weshalb: der Zuwachs an Wirtschaftsleistung pro Person, einer der Maßstäbe für die Produktivität, hat sich in den vergangenen 50 Jahren kontinuierlich verlangsamt. Konnte die Wirtschaftsleistung pro Beschäftigten in Deutschland zwischen 1972 und 1992 noch um durchschnittlich 2 Prozent pro Jahr gesteigert werden, stagnierte die Produktivität zuletzt nahezu. Doch nicht nur in Deutschland, auch in anderen Teilen der Welt scheint es, als sei der Grenznutzen der Arbeitskraft abnehmend; mit Ausnahme der USA.

Gründe für Deutschlands Produktivitätsschwäche gibt es viele. Die aktuellste Antwort auf die Frage danach, weshalb der Arbeitsmarkt boomt, die Wirtschaft aber nur stagniert, dürfte der starke Zuwachs der Teilzeitarbeit sein. Zwar liegt das Beschäftigungsniveau in Deutschland auf einem Rekordhoch, doch dies war lediglich durch einen Anstieg der Teilzeitbeschäftigung auf neue Höchststände getrieben.

Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung, der Vollzeitbeschäftigung und der realen Arbeitsproduktivität pro Person

(Index, Q4 2019=100)

Der Chart zeigt die Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung, der Vollzeitbeschäftigung und der realen Arbeitsproduktivität pro Person
Quelle: Eurostat; ING Economic & Financial Analysis

Dementsprechend lag die Anzahl der Erwerbstätigenstunden am Ende des Jahres 2023 um rund 200 Millionen Stunden niedriger als am Ende des Jahres 2019. Da das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeitgleich leicht zunahm, ergibt sich ein Plus für die Produktivität pro Erwerbstätigenstunde. Der Blick auf die Entwicklung der realen Arbeitsproduktivität und die Teilzeitquote in den verschiedenen Eurozone-Ländern zeigt allerdings, dass zwischen den beiden Größen tatsächlich ein negativer Zusammenhang zu bestehen scheint.

Der Blick auf die jüngsten Arbeitsmarktdaten legt nahe, dass es nicht zwangsläufig der Mangel an Investitionen, oder andere altbekannte Schwachstellen der deutschen Wirtschaft, sondern auch strukturelle Schwächen und Dynamiken am Arbeitsmarkt sein dürften, die die Produktivitätsschwäche des Landes befeuern.

Der Trend hin zur verkürzten Arbeitszeit wird, zumindest solange Kollege Roboter noch nicht einspringen kann, die Produktivität belasten, was den Druck auf Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich erhöhen dürfte. Um dem entgegenzuwirken, braucht es einen großen Frühlingsstrauß an Maßnahmen – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss vorangetrieben werden, um insbesondere Müttern den Zugang bzw. die Rückkehr zur Erwerbsarbeit zu erleichtern, und Arbeitsplatzautomatisierung und Weiterbildungsmaßnahmen müssen dort greifen, wo die Herausforderungen der Zukunft es nötig machen. Nichts gegen flexible Arbeitsmärkte – doch wer in Zukunft wieder Produktivitätswachstum ernten will, muss mehr als das absolute Beschäftigungsniveau im Blick haben.

Zum Download: Unsere Studie „Vollzeitschwäche der Produktivität“

Autor: Carsten Brzeski & Franziska Biehl