Im Community-Artikel plädieren Irmtraud Ehrenmüller und Peter Stepanek für eine bessere Förderung der Erforschung von Sozialwirtschaft und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Seit März 2020 scheinen Österreich und Europa nicht mehr aus dem Krisenmodus zu kommen. Auch wenn sich ältere Menschen an noch schlimmere Krisen und Kriege erinnern können, werden die 2020er-Jahre wohl als Krisenjahrzehnt in die Geschichtsbücher eingehen. Das liegt mitunter an der Komplexität der Herausforderungen. Die Gesundheits- und Pflegekrise ist auch eine Wirtschafts- und Sozialkrise. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie fragil unser Zusammenleben in Europa ist, aber auch, wie verwundbar unsere Infrastruktur und wie abhängig unsere Energieversorgung ist. Die steigende Inflation ist für viele Menschen eine Armutsfalle und wird auch Betriebe in die Knie zwingen. Und zu alldem kommt die Klimakrise. Müssen wir uns und "die Wirtschaft" neu erfinden? Wo schaffen wir den Transfer? Die Sozialwirtschaft hat passende Ansätze für das Wirtschaften im 21. Jahrhundert.

Soziale Infrastruktur und innovativer Wirtschaftssektor

Was steckt hinter dem zunächst widersprüchlich klingenden Begriff Sozialwirtschaft? Die Branche der sozialen Dienstleistungen umfasst große und kleine Sozialorganisationen und -unternehmen. Zu ihr gehören unterschiedliche Handlungsfelder und zahlreiche Berufsgruppen. Die Sozialwirtschaft beziehungsweise der soziale Sektor ist ein wachsender, ja boomender Bereich, gerade in Krisenzeiten. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss spricht von 7,6 Prozent aller Beschäftigten Österreichs.

Sozialwirtschaft bündelt Organisationen und Aktivitäten, mit denen die soziale Infrastruktur zur nachhaltigen Wohlstandssicherung der Gesellschaft entwickelt und wirksam umgesetzt wird. Die Stadt Wien hebt die Bedeutung von Gesundheits- und sozialen Dienstleistungen im Sinne der Daseinsvorsorge hervor und sieht sie als einen wichtigen Baustein für die Lebensqualität. Während die Relevanz der Daseinsvorsorge bei der Energieversorgung aktuell intensiv besprochen wird, fristet die Wahrnehmung des Beitrags der Sozialwirtschaft zur Krisenvermeidung und -bewältigung ein Schattendasein. Doch gerade jetzt kann "die Wirtschaft" viel von der Sozialwirtschaft lernen.

Sozialwirtschaft bietet innovative Lösungskompetenz

Sozialmanagerinnen und Sozialmanager sind es gewohnt, soziale und wirtschaftliche Ziele in Balance zu halten. Eine Sozialorganisation zu führen bedeutet zumeist, mit relativ überschaubarem Ressourceneinsatz ein Maximum an sozialer Wirkung zu erzielen. Das fördert die Suche nach innovativen Lösungen. Diese Kompetenz, ja vielleicht sogar diese Resilienz, wird in der Bewältigung der Krisen und der Hinwendung zum nachhaltigen, ressourcenschonenden Wirtschaften besonders gefragt sein. Die Sozialwirtschaft reagiert rasch auf neue Bedarfe, wenn zum Beispiel wie 2015/16 Menschen auf der Flucht versorgt oder 2022 Angebote zur Abfederung von Armut geschaffen werden.

Sozialwirtschaft bedeutet auch, mit finanziellen und personellen Hürden zu kämpfen – etwa dem Pflegekräftemangel. Um den Nutzen einer diesbezüglichen Förderung besser zu verstehen, bedarf es weiterer Forschungsarbeit.
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Ungelöst bleibt hingegen der Pflegekräftemangel, dessen Ursache unter anderem auf die jahrzehntelange Geringschätzung des Berufs hinsichtlich des gesellschaftlichen Wohlstands zurückzuführen ist. Innovationspreise, Medien und Politik zeichneten immer andere für deren Innovation aus, während den agilen und innovativen Sozialorganisationen wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Politik hat bisher das Potenzial der Sozialwirtschaft zur Abfederung und Begleitung der Krisen überhaupt nicht erkannt. Die Sozialwirtschaft wird oft nur als Kostenfaktor gesehen. Dabei ist die Rechnung ebenso einfach wie beeindruckend: Eine Million Euro an Investitionen schafft rund 16 Vollzeitarbeitsplätze. Das erhöht das BIP, aber vor allem den gesellschaftlichen Wohlstand Österreichs, der in der Regel nicht in Geld ausgedrückt wird.

Fehlende Daten zur Sozialwirtschaft

Österreich fehlt es an einer klaren Definition und einer umfassenden Datenbasis über die Sozialwirtschaft für die Beantwortung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen, um Stakeholdern seriöse Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung zu stellen. Nur so sind eine gesamthafte Darstellung und Bezifferung des Markt- und Wirkungspotenzials für die Gesellschaft möglich. Damit könnte man untermauern, warum die Sozialwirtschaft weiter ausgebaut werden soll. Die Sozialwissenschaft hat zahlreiche Methoden, um diesen gesellschaftlichen Nutzen bzw. die Wirkung sozialer Angebote darzustellen oder gar in Geld zu bemessen. Aber es fehlt an Geld für diese Analysen.

Forschungsgelder dringend gesucht

Eine kürzlich erschienene Studie stellt fest, dass weltweit jährlich rund drei Millionen wissenschaftliche Publikationen erscheinen, der Anteil an sozialwissenschaftlichen Studien aber jenen aus dem Mint-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik) inklusive der Umweltwissenschaften immer mehr hinterherhinkt. Gleichzeitig erlebt die Welt mehr existenzbedrohende, globale Krisen als je zuvor. Die Bedeutung von wissenschaftlicher Forschung zur Lösung sozialer und gesellschaftlicher Fragestellungen scheint deutlich weniger im Bewusstsein von Forschungsförderungseinrichtungen verankert zu sein als bei technik- und umweltrelevanten Forschungsthemen.

Es fehlt an Mitteln für die Sozialwirtschaftsforschung. Keinesfalls soll dabei das eine gegen das andere aufgerechnet werden. Denn die nachhaltige Wohlstandssicherung ist das Fundament, auf dem innovative Entwicklungen hinsichtlich Umwelt und globale Sicherheit gedeihen können. Das Anliegen sozialwirtschaftlicher Forscherinnen und Forscher ist daher, angemessene Mittel für sozialwirtschaftliche Forschung zu erhalten, um die Wirkung dieser wohlstandssichernden sozialen Dienstleistungsbranche darzustellen und Erkenntnisse auf andere Wissenschaftsbereiche transferieren zu können. (Irmtraud Ehrenmüller, Peter Stepanek, 23.1.2023)