1 Einleitung – Machtmechanik in Universitäten und Hochschulen

Die hier dargelegte gruppendynamische Intervention wird innerhalb eines stark hierarchischen und bürokratisch organisierten Hochschulsystems, dem die Lehrenden und die Studierenden selbst angehören, angewendet. Das Hinterfragen der funktionalen Organisation eröffnet den Hinterfragenden systeminhärente Widersprüche, die bei entsprechender Reflexion zu einem Lernen aus ErfahrungFootnote 1 führen. Dabei sind auftretende Spannungen zu überwinden, die durch das Beleuchten der Zwänge der Organisation für alle Beteiligten sichtbar werden (König 2000, S. 14).

Universitäten und Hochschulen sind von einer klaren Hierarchie und zumeist auch klaren Regeln hinsichtlich der Prüfungen geprägt. In vielen, wenn nicht in den meisten Fällen gibt es Prüfungsordnungen, in denen Art und Umfang der abzulegenden Prüfungen klar geregelt sind. Flexibilität gibt es lediglich bei den Inhalten, nicht aber bei der Frage, ob es eine Prüfung gibt.

Lehrende stellen Fragen, Studierende antworten und Lehrende bewerten die Antworten. Es handelt sich also um ein asymmetrisches Machtverhältnis, das in Teilen dem ähnelt, was Fisher (1984) über die Arzt-Patienten-Beziehung feststellt und auf die Dyade Lehrende–Studierende übertragen werden kann. Lehrende haben meist Spezialwissen und -fähigkeiten, es gibt eine klare hierarchische Organisation, innerhalb derer sich die Profession bewegt. Auch die weiteren Punkte treffen in vergleichbarer Art auf die Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden zu:

Waitzkin and Waterman (1974) discuss the competence gap between doctors and patients, saying that most patients lack the medical knowledge to be equal partners in the medical situation. Furthermore, they describe this gap as widening at the lower end of the socioeconomic spectrum. Such patients not only share different life experiences, have less medical knowledge, and fewer choices over the medical setting in which they receive care, but, in addition, they are perceived as being irresponsible and forgetful (Ehrenreich & Ehrenreich 1970) (Fisher 1984, S. 201).

Studierende haben also üblicherweise nicht die Möglichkeit, eine Klausur zu vermeiden oder die Fragen im Vorfeld zu kennen. Im Gegenteil: „Die Prüfung kombiniert die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung“ (Foucault 1994, S. 238).

Selbst wenn die Frage nach der Art der Prüfung den Studierenden in einzelnen Formaten vermeintlich freigestellt wird, geht es dennoch um eine nicht vermeidbare Bewertung der eigenen Leistung (vgl. Motschnig-Pitrik und Santos 2006, S. 13 f.). Die Studierenden haben eine „Schein-Wahl“ oder legen sich selbst die Fesseln an, die sie innerhalb des Systems gelernt und verinnerlicht haben.

Es herrscht aus Sicht der Studierenden also eine Abhängigkeit von den Lehrenden, gepaart mit einer Unsicherheit, wie die Prüfung konkret aussehen wird. Die Prüfung ist als psychosozialer Konflikt ein angstbeladener, negativer Höhepunkt des Studiums (Krainz und Schilling 1978, S. 378; siehe auch Putwain 2008; Sarason 1984), eine „Marter“, die Androhung von Strafe, die wesentlich ist, um die Macht der Lehrenden als Souverän zu sichern (Foucault 1994, S. 65). Durch die Systematik einer Prüfung werden Studierende diszipliniert, sie „[…] fabriziert auf diese Weise [durch diese Mechanik der Macht] unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“ (Foucault 1994, S. 177). Studierende werden zu well trained puppies, gut abgerichteten, gefügigen Welpen im System der Organisation. Sie lernen aus Angst vor einem schlechten Prüfungsergebnis, aus einer defensiven Lernbegründung (vgl. Holzkamp 2004, S. 32).Footnote 2

Vom Grundsatz ist die Ausübung einer Art von Macht aber nicht zwingend nur negativ. Diese stark lokalisierte, auf die Studierenden ausgeübte Macht sorgt im Studienalltag für EffizienzFootnote 3 in der Abwicklung der Prüfungen und ermöglicht einen weitestgehend reibungslosen Ablauf des Studiums, da die Prüfung nicht immer neu verhandelt werden muss. Sie wird formal durch die Organisation festgelegt und inhaltlich von den Lehrenden ausgestaltet.

Die oben skizzierte Machtasymmetrie, die davon ausgehende Disziplinierung und die damit verbundene Effizienz werden dadurch ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit gesetzt, dass den Studierenden die Möglichkeit eröffnet wird, die Prüfungsfragen für die eigene Prüfung im Ausmaß von 49 % selbst zu erstellen. Für ein positives Bestehen der Lehrveranstaltung sind 50 % notwendig.

Die Freiheit der Studierenden besteht darin, dass beliebige Fragen in beliebiger Anzahl mit einer Punktebewertung von insgesamt 49 Punkten erstellt werden dürfen, daher stammt auch die Bezeichnung 49-Punkte-Intervention. Das Beliebige geht so weit, dass die Fragen keinerlei Bezug zum Inhalt der Lehrveranstaltung aufweisen müssen, wie z. B.: Ist der Vortragende ein Mann?

2 Lernen durch das Erleben und Bearbeiten von Konfliktdynamiken

Wir verstehen die 49-Punkte-Intervention als einen Baustein innerhalb eines experienced centered teaching approach (Schuster und Radel 2018, S. 305 ff.)Footnote 4. Innerhalb dieses Rahmens wird ein Raum zum Denken und Handeln eröffnet und Emanzipation ermöglicht.

Studierende sollen im Sinne eines Entfaltungslernens „[…] ihre eigene Identität umfassender entwickeln und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern können“ (Faulstich und Ludwig 2004, S. 4). Dabei steht besonders eigenverantwortliches Handeln im Vordergrund, welches im Sinne eines prosozialen Handelns zunehmend im Bereich der Managementausbildung diskutiert wird (Haski-Leventhal et al. 2020). Ein besonderes Kennzeichen dieser Intervention ist das Auftreten von Emotionen. Dies ist eng verbunden mit der Gestaltung der Lehr-Lern-Beziehung durch die Lehrenden. Es bedarf einer tragfähigen Beziehung, um solche emotionsbehafteten Interventionen steuern zu können. Üblicherweise werden Emotionen im Kontext von Didaktik instrumental betrachtet, z. B., dass Inhalte, wenn diese mit Emotionen verknüpft sind, klarer und länger behalten werden (Tyng et al. 2017). Eine tiefgreifendere Einbeziehung emotionaler Aspekte in didaktisches Kalkül scheint sich erst anzubahnen (vgl. Gieseke 2012).

Innerhalb der 49-Punkte-Intervention bietet der Lehrende den Studierenden an, dass diese aktiv an der Gestaltung der eigenen Prüfung mitwirken, indem ihnen die Möglichkeit geboten wird, Fragen der Klausur selbst zu erstellen und mittels Punkten zu gewichten (siehe Kap. 3). Das bedeutet, dass sie nahezu 50 % der Klausur gestalten können, in der üblicherweise 100 Punkte (= 100 %) erreicht werden können, um die Bestnote (1,0) zu erlangen. Daraus ergibt sich für die Studierenden die Zumutung, dass eine institutionelle Voraussetzung, nämlich jene bezüglich der Gestaltung von Prüfungen, partiell aufgehoben ist und von ihnen neu entschieden werden muss. Ein Aspekt dieser Zumutung liegt darin, dass das Problem der (bzw. für die) Studierenden von den Lehrenden erzeugt wird. Je nach Sozialisation und verinnerlichter Autorität auf Seiten der betroffenen Individuen setzt die Eröffnung des eigenen Entscheidungsraums Konfliktdynamiken frei, die sich in weiterer Folge auf den Entscheidungsprozess auswirken können. Durch diese Zumutung der Entscheidung können bei den Studierenden Irritationen und damit verbundene Emotionen entstehen. Diese werden innerhalb des hier beschriebenen Settings schlussendlich als Lehr- und Lernerfahrung nutzbar gemacht. Gleichzeitig arbeiten die Lehrenden am inhaltlichen Teil der Lehrveranstaltung weiter. Gruppendynamische Intervention und Inhalte der Veranstaltung werden so verbunden und stützen sich gegenseitig. Die Intervention wird beispielsweise in Veranstaltungen in den Themenfeldern Change-Management und Führung eingesetzt.

Das Lernen aus Erfahrung wird mittels Reflexion des eigenen und fremden Verhaltens und der dabei auftretenden Emotionen ermöglicht. Gieseke (2012, S. 76) formuliert dazu passend: „Prozesse der emotionalen Ausdifferenzierung und verinnerlichte Normen und Werte nehmen als emotionale Schemata Einfluss auf das Arbeitsverhalten und die Teamfähigkeit, können aber durch entsprechende reflexive Bearbeitungsformen modelliert und verändert werden […]“. Besonders ist dabei die „Meta-Hilfs- und Lernbedürftigkeit“ (Schein (2000) zitiert in: Geißler 2012, S. 21) der Lehrenden zu beachten. Das bedeutet, die Lehrenden sind hier lediglich teilweise in der Rolle von Experten, die Wissen vermitteln, zusätzlich sind sie auch Dialogpartnerinnen, die „[…] in Gemeinschaft mit [Studierenden] explorationshandelnd Verantwortung für das zu lösende Problem […] übernehmen“ (Schein (2000) zitiert in: Geißler 2012, S. 21).

Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass die dabei auftretenden Emotionen schwer vorhersehbar sind, da diese stark mit der jeweils individuellen Sozialisation der Studierenden zusammenhängen. Das konfrontiert die Lehrenden mit dem Widerspruch, dass einerseits Irritationen notwendig sind, um Reflexionen anzuregen, andererseits ist damit auch die Gefahr einer (emotionalen und teils auch formalen) Eskalation gegeben, die Reflexion wiederum verhindert. Allerdings sind Emotionen ein wesentlicher Bestandteil, da diese Lernchancen eröffnen können. Schubert (2014, S. 79) argumentiert, dass Emotionen sowohl für die Bewertung von Reflexionsprozessen als auch für das Zustandekommen dieser wesentlich sind.

Wenn die auftretenden Irritationen zu gering ausfallen, so verhindert dies möglicherweise das Lernen durch Erfahrung, hat jedoch sonst wenig Auswirkung auf die Inhalte und den Ablauf der Lehrveranstaltung. Die 49-Punkte-Intervention kann aber auch dazu führen, dass die bestehende internalisierte Hierarchie einen massiven äußerlichen Konflikt mit dem „Verräter der gegebenen Ordnung“, nämlich dem Dozenten, hervorruft. Das bedeutet, dass anstelle der durch die Reflexion ermöglichten Erkenntnisse bezüglich der institutionellen Hierarchie und der möglichen darin enthaltenen Erweiterung eigener Handlungsspielräume ein Ruf nach stärkerer Autorität erfolgt. Pettenkofer (2012, S. 212) bemerkt, dass „[…] so auch ein Reflexionsprozess beginnen [kann], der bei den irritierenden Elementen der Situation ansetzt, aber nicht notwendig auf sie begrenzt bleibt, sondern – von ihnen aus verallgemeinernd – die jeweilige Gesellschaftsordnung insgesamt als problematisch erscheinen lassen kann“.

Wir setzen Interventionen vom Typ 49 Punkte seit 2016 immer wieder in verschiedenen Veranstaltungen ein, in denen auch Begriffe wie Autorität, Hierarchie, selbstgesteuerte Teams usw. zentrale Elemente der Veranstaltungen sind. So erleben die Studierenden abstrakte theoretische Konzepte an sich selbst, was belastend sein kann. Ab und zu führt dies zu sozialen Verteidigungsmechanismen (Ego Defenses) (siehe unter anderem: Cramer 2006; Sandler und Freud 1985; Vaillant 1971, 1986, 1994). Mehrmals haben sich Studierende bei der Lehrgangsleitung, Prüfungsausschüssen oder vergleichbaren Regulativen oder Wächtern der Ordnung beschwert. Diese formale Eskalation führte in einem Fall dazu, dass die Beschwerde der Studierenden von der Lehrgangsleitung moderierend bearbeitet und damit ein Konsens zwischen den Lehrenden der Veranstaltung und den Studierenden erreicht und die Lehrveranstaltung weitergeführt wurde. In einem anderen Fall führte es dazu, dass einer der Lehrenden verwarnt, der Rest der Lehrveranstaltung von der Lehrgangsleitung vorgegeben und die Lehrveranstaltung danach an andere Dozenten vergeben wurde. Daraus haben wir gelernt, dass es sinnvoll ist, die obere Hierarchieebene vorher über die zugrunde liegende Didaktik und damit verbundene Eventualitäten in Kenntnis zu setzen. Auch hier wird deutlich, inwieweit Widersprüche zwischen Lehrenden und Organisation wirken, etwa im Spannungsfeld Freiheit der Lehre und formale Anforderungen wie Prüfungsordnungen.

Zur Veranschaulichung wird in Tab. 1 ein Überblick über die potenziellen Konfliktdynamiken und damit verbundene Literaturhinweise gegeben. Im Folgenden werden außerdem die intra- und die interpersonellen Konfliktdynamiken näher beleuchtet.

Tab. 1 Potenzielle Konfliktdynamiken der 49-Punkte-Intervention (Auswahl)

3 Die Intervention als Katalysator von Konfliktdynamiken

Die 49-Punkte-Intervention braucht eine eigene Choreografie. Bei der ersten oder zweiten Unterrichtseinheit wird durch das unerwartete 49-Punkte-Angebot Verblüffung hergestellt. Nach unserer Erfahrung werden Studierende durch das Angebot der Selbstbestimmung so stark aus der gewohnten Erlebniswelt gerissen,Footnote 5 dass sie diese neue Situation nicht sofort als Chance wahr- und annehmen (können). Die Studierenden vermuten bis zuletzt, es gäbe irgendwo einen catch, so unglaublich scheint das Angebot, die Klausur mitbestimmen zu können.

Folgende Regeln werden im Zusammenhang mit dem 49-Punkte-Angebot verbunden:

  1. 1.

    Alle Studierenden müssen einstimmig in einer anonymen WahlFootnote 6 dafür stimmen. Bereits eine Gegenstimme reicht aus, um das Angebot abzulehnen.

  2. 2.

    Die selbst erstellte(n) Frage(n) und die dazu passenden Lösung müssen zu einem gegebenen Zeitpunkt von einem dafür von der Gruppe bestimmten Studierenden an den Dozenten gesendet werden. Dabei sind sowohl die Anzahl der Fragen als auch deren Gewichtung den Studierenden selbst überlassen. Es gibt also für die Gruppe nur eineFootnote 7 (oder mehrere Fragen), die für die ganze Gruppe gilt (gelten).

Allein in der ersten Regel sind zahlreiche Elemente zu finden, die die Intervention mit potenziellen Konflikten aufladen: Die Frage ist, wer alle sind. Hier wird die Zugehörigkeit zur Gruppe verhandelt und Dozenten immer ausgeschlossen, weil „man diesen ja nicht trauen kann, wenn sie mit abstimmen“. Oft sind auch nicht alle Studierenden, die offiziell eingeschrieben sind, anwesend. Hier gilt es, als Dozent sensibel zu sein, nicht zu schnell nachzugeben und Zugeständnisse zu machen, aber auch nicht zu sehr zu beharren. In einem Fall wollte eine Gruppe von Studierenden eine hochschwangere Studentin dazu bewegen, zur Vorlesung zu kommen, was zum Glück verhindert werden konnte. Haben die Studierenden das Gefühl, nicht gewinnen zu können und dass man mit ihnen spielt, verpufft die Intervention. Üblicherweise lassen wir uns auf eine Prozentzahl derjenigen ein, die anwesend sein müssen. Die Abstimmung muss dann aber einstimmig sein.

Die Regel der Einstimmigkeit stellt gewohnte demokratische Prozesse infrage und kehrt die Machtverhältnisse um. Nicht mehr die Mehrheit kann die Minderheit bestimmen, sondern die Minderheit bekommt alle Macht über die Masse der Mehrheit. Hier bieten sich spannende Diskussionen darüber an, wie wir mit Minderheiten umgehen. Nehmen wir ihre Bedürfnisse ernst oder ignorieren wir sie schulterzuckend. Dies birgt große Konflikte bei Studierenden, die sich für Minderheiten einsetzen, dann aber erkennen, dass dieser Einsatz merklich schwindet, wenn sie dadurch einen persönlichen Nachteil hätten.

Die Anonymität macht die (soziale) Kontrolle von Individuen nahezu unmöglich. Das ist für diejenigen problematisch, die den Prozess in ihrem Sinne beeinflussen wollen. Oft ist das der Punkt, der für massive „Aufregung“ sorgt, da die Gruppe mit der Frage nach der eigenen Kultur konfrontiert wird. Verknüpft man die Anonymität mit der Einstimmigkeit, kann man als Lehrender die Frage in den Raum stellen,Footnote 8 wie die Gruppe denn mit einzelnen Mitgliedern (oft Minderheiten) umgeht und dass dies ja jetzt eine Gelegenheit wäre, diese schlechte Behandlung zurückzuzahlen.

Eine erste Reaktion auf das Angebot ist üblicherweise Verwirrung der Gruppe mit der anschließenden (zumeist vorsichtigen) Nachfrage, ob der Lehrende es noch einmal erklären kann. Das Angebot scheint ein Tabu, das nicht sein kann und nicht sein darf, also wird es verdrängt und nicht gesehen (Zerubavel 2006, S. 26 ff.). Erst wenn verstanden und akzeptiert wurde, dass das Angebot real ist, gelingt eine Diskussion darüber. Dennoch bleibt oft, wie oben geschrieben, eine Skepsis, die am Ende sogar die Abstimmung in Zweifel zieht.

Aus didaktischen Gründen wird diese Diskussion spätestens kurz vor Ende der Unterrichtseinheit abgebrochen und im Rahmen der folgenden Termine von den Lehrenden auch nicht wieder aktiv angesprochen. Gegen Ende der Vorlesungsreihe, vor der Prüfung, wird das 49-Punkte-Angebot nicht noch einmal in Erinnerung gebracht, sondern üblicherweise von den Studierenden thematisiert.Footnote 9

Interessanterweise war es bisher selten der Fall, dass die Studierenden selbst das 49-Punkte-Angebot nach Abbruch der Diskussion am Ende der ersten (oder zweiten) und vor einer möglichen Erinnerung durch den Dozenten, kurz vor der letzten Unterrichtseinheit, wieder angesprochen haben. Teilweise wurde versucht, taktisch zu agieren: Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt wenige Studierende im Raum waren, wurde meist von einem WortführerFootnote 10 versucht, eine Abstimmung zu erzwingen. Das hat für die Studierenden mehrere Vorteile: Im Sinne des Divide et Impera ist eine kleine Gruppe leichter zu steuern, das Risiko von Abweichlern ist geringer. Zuletzt ist es für die Studierenden besser, früh Klarheit zu bekommen, da eine strategische Komponente mitspielt. Wenn die Studierenden erst kurz vor der Klausur wissen, ob sie die Punkte bekommen oder nicht, haben sie ein Problem, wenn sie bis dahin nichts gelernt haben. Der Druck bzw. die Abhängigkeit nimmt also zu. Haben die Studierenden bereits viel Zeit investiert, so brauchen sie die Punkte nicht unbedingt und sind zunehmend „genervt“ von der Gruppe der Abhängigen. Als Dozent ist es wichtig, eine frühe Abstimmung nicht zuzulassen, da dies den Druck vermindert und die Intervention verpuffen lässt.

Insgesamt wurden die erste und die letzte Unterrichtseinheit mit der Dauer von jeweils zwei Stunden für die 49-Punkte-Intervention verwendet. In der Reflexion werden den Studierenden folgende Leitfragen zur Diskussion in KleingruppenFootnote 11 gegeben, bevor die Abstimmung stattfindet:

  1. 1.

    Wie geht es Ihnen?

  2. 2.

    Was hat sich nach der ersten Sitzung, in der die 49-Punkte-Option besprochen wurde, verändert? (positiv und negativ)

  3. 3.

    Welche Dinge fanden Sie besonders belastend und warum?

  4. 4.

    Was sind Lessons Learned aus dem Prozess?

Anschließend präsentiert jede Gruppe ihre Ergebnisse, die danach diskutiert werden.

Im Folgenden wird nun noch einmal kurz auf einzelne Aspekte der in Tab. 1 dargestellten Konfliktdynamiken eingegangen und die theoretischen Hintergründe der Intervention werden in deren Kontext diskutiert.

3.1 Intrapersonelle Konfliktdynamiken

Zuallererst stellt sich in der Reflexion die Frage nach individuellen Werten, die sehr stark über die persönliche Sozialisation bzw. das bisher erlebte Bildungssystem geprägt werden und eigene Entscheidungen, auch im Kontext der Organisation, beeinflussen (Maio und Olson 1995): „[…] [O]nce values are internalized, they become a standard for guiding action, developing and maintaining attitudes, and justifying one’s own actions and judging others“ (Kraimer 1997, S. 433).

Hier wird deutlich, in welchem Stadium der moralischen Entwicklung jedes Individuum verortet ist und inwieweit diese Entwicklung bzw. Einstellung zur Organisation passt (Coldwell 2018; Kraimer 1997, S. 433 ff.). Da sich Lehrende im Rahmen der 49-Punkte-Intervention allerdings nicht klar hinsichtlich einer Entscheidung positionieren, verbleibt der Konflikt in der Gruppe und muss dort ausgehandelt werden. Die auf didaktischem Kalkül begründete Zumutung ist, dass die Studierenden mit Unsicherheiten zurechtkommen und Eigenverantwortung in dem zur Verfügung gestellten Entscheidungsraum wahrnehmen. Den Studierenden wird dadurch die Möglichkeit gegeben, negative Leistungsfähigkeit auszubilden, die dann gegeben ist, „[…] when a man is capable of being in uncertainties, mysteries, doubts, without any irritable reaching after fact and reason“ (Unterhalter 2017, S. 1).

Auf eine Studentin schien der Druck so groß gewesen zu sein, dass sie kurz vor der Abstimmung aus dem Raum ging, um das WC aufzusuchen, und exakt nach der Abstimmung wieder in den Raum kam. Das hat ihr die Möglichkeit gegeben (die wir als Lehrende in dem Moment zugelassen haben), a) zu sagen, dass sie ja dafür gestimmt hätte (vor den anderen Studierenden gilt sie also als Unterstützerin), und b) sich selbst zu sagen, dass sie ja dagegen gestimmt hätte. Sie schafft es durch dieses Paradox, kognitive Dissonanz zu vermeiden und sowohl vor der Gruppe als auch vor sich stimmig und „gut“ zu sein.

3.2 Interpersonelle Konfliktdynamiken

Ein sehr früh sichtbarer Effekt der Intervention ist GruppendruckFootnote 12. Dabei ist der Beginn der Dynamik zunächst gekennzeichnet durch eine Bezugnahme auf Abstraktes wie z. B. die Gruppe, man, niemand etc. (vgl. Main 1977, S. 62). Meist äußert sich jemand aus der Gruppe mit den Worten: „Da wird doch niemand etwas dagegen haben“, oder: „Wer sollte denn da etwas dagegen haben?“ Studierende müssen also aktiv widersprechen, was bedeuten würde, dass sie der eigenen Gruppe (in-group) Schaden zufügen. Studierende, die im weiteren Verlauf dadurch persönlich in Erscheinung treten, dass sie ihre Absicht, bei der vom Dozenten angekündigten anonymen Wahl dagegen zu stimmen, kundtun, werden von anderen verbal teils deutlich unter Druck gesetzt.

Außerdem findet sich immer wieder ein Teil der Studierenden, der das 49-Punkte-Angebot an sich „unmoralisch“ findet und es nicht annehmen will. Dieser Teil findet die Einstellung anderer, die „nehmen, was zu haben ist“, unmöglich. Das macht unterschiedliche Werte in einer Gruppe unmittelbar deutlich. In einem Fall stand eine Studentin auf, drehte sich zur Gruppe um und kommentierte, sehr generalisierend: „Ich wusste gar nicht, mit was für Leuten ich hier bin. Ich habe gar keine Lust mehr auf euch.“

Um Gruppendruck auszuüben und Schaden zu vermeiden, versuchen Studierende, wie oben beschrieben, eine schnelle Abstimmung herbeizuführen. Wichtig ist es jedoch, die Dynamik wirken zu lassen.Footnote 13 Mitunter werden offene Probeabstimmungen durchgeführt, um Sicherheit bezüglich der geplanten anonymen Abstimmung zu erlangen. Aus unserer Sicht ist das ein Aktionismus, der zwar beruhigt, aber vom eigentlichen Problem des Aushandelns ablenkt. Umso größer ist dann die Enttäuschung, wenn in der anonymen Abstimmung jemand von der vorher vermeintlich vereinbarten Linie abgewichen ist.

4 Fazit und Transfer in die Praxis

Die hier beschriebene Intervention und ihre Variationen können aus unserer Sicht in der Ausbildung von Studierenden maßgeblich dazu beitragen, eigene Werte zu hinterfragen, eigenes Verhalten in Gruppen zu betrachten und Dynamiken von Gruppen und Auswirkungen von Entscheidungen zu erkennen. Dadurch, dass Studierende nicht im Dort und Dann abstrakt über andere sprechen, sondern sich im Hier und Jetzt mit sich selbst und der Gruppe, in der sie sind, auseinandersetzen, ergeben sich große Lernpotenziale für alle Seiten.

In der Managementausbildung hilft die 49-Punkte-Intervention aus unserer Sicht, Führung und Teamarbeit zu reflektieren. Gerade aktuell, wo Mitbestimmung nicht nur von Unternehmen gewünscht, sondern auch von den Beschäftigten eingefordert wird, macht die Intervention deutlich, wie komplex Dynamiken sein können, wenn Autoritäten Macht abgeben und tradierte Organisationsformen und Verfahren neu verhandelt werden müssen.

Heute wird viel über Agilität geredet, als würde der bloße Zusatz des Wortes bekannte Probleme lösen. Im Zusammenhang mit Agilität werden dann flache Hierarchien und mehr Demokratie am Arbeitsplatz gefordertFootnote 14. Was dabei oft nicht beachtet wird, sind die Dynamiken, die mit dem Abbau von Hierarchie und mehr Demokratie verbunden sind. Alle Hierarchien (also nicht nur jene der Bildungsinstitutionen) müssen aus unserer Sicht mit der Dialektik von Fremd- und Selbstorganisation umgehen lernen, wenn sie den vorhandenen Handlungsspielraum erweitern wollen. Weder kann Hierarchie auf agiles Management noch agiles Management auf Hierarchie verzichten.Footnote 15

Grundsätzlich besteht unseres Erachtens aber das Risiko, dass Organisationen in der Praxis, bei unreflektierter hierarchischer Ordnung, Erkenntnis abwehren. Die Ursache dafür ist, dass Reflexionsverbot zum Wesen der Hierarchie gehört (Heintel und Krainz 2015, S. 113). Die hier vorgestellte 49-Punkte-Intervention zeigt auf, wie eine potenzielle Abwehr von Reflexion überwunden werden kann. Hierarchische Ordnung und das damit verbundene potenzielle Reflexionsverbot sind vermutlich ebenso in nicht-universitären Einrichtungen zu finden, also auch in Organisationen außerhalb des hier beschriebenen Kontextes, womit die Intervention auch in anderen Kontexten Relevanz hat. Die Herausforderung besteht lediglich darin, die 49 Punkte zu finden, die in dem jeweiligen Kontext ähnliche Bedeutung für die Mitglieder der Gruppe haben.

Wir hoffen, dass unsere Darstellung der 49-Punkte-Intervention Dozentinnen und Dozenten dazu ermutigt, selbst – mit entsprechender reflexiver Begleitung und Aufbereitung – am Prüfungsrad zu drehen. Unseres Erachtens ist in der Gestaltung von Prüfungen ein großes Potenzial für die Innovation von Hochschuldidaktik vorhanden.